In der Mitte der schweratmenden Stadt, steht ein Haus, turmhoch und von vier Seiten begehbar, dem Grundriss nach quadratisch, in sich unterteilt in weitere, kleinere Türme, die unterschiedlich weit in den Himmel herein ragen. Es ist das größte Haus in der ganzen Stadt, genau genommen ist dieses Haus selber eine kleine Stadt und in diesem Haus verschwinden Jahr für Jahr hunderte von Menschen, neue kommen immer wieder nach und es wohnte dort einmal ein Mädchen (Haus 3, 15. Stock) und dieses Mädchen ist nun ebenfalls verschwunden. Niemand findet sie. Niemand in der Stadt weiß überhaupt, dass sie weg ist und Niemand meldet sie nicht. Es gibt für das Abhandengehen von Personen wohl eine zuständige Behörde, aber damit diese tätig wird, muss eben erst eine Meldung gemacht werden, doch selbst wenn das, zu dieser inzwischen fortgeschrittenen Zeit geschähe, es wäre vergeblich, denn dieses Mädchen kann nicht mehr gefunden werden und sie ist darüber nicht einmal unglücklich.
An einem glühenden Tag im Sommer vor drei Jahren stieg sie aus einem Schnellzug auf den heißen Asphalt. Noch auf der Zugfahrt hatte sie in Gedanken an ihr Zuhause, von dem sie sich weit und immer weiter entfernte, am Fenster ein bisschen geweint. Die Eltern waren tot und es war seither schon einige Zeit vergangen. Nun aber wollte sie hier angekommen, um in der Fremde zu sein. Der Rücken spannte, die Sohlen brannten und sie schleppte sich über den Boden, zwei kleine Koffer in der Hand, vorbei an den steinernen Fassaden, den fahrenden Autos und den aus allen Richtungen herbei und wieder ab strömenden Menschen, die sich beeilten. Das Mädchen lief auch etwas schneller und vor dem größten Haus in der Stadt, jenem turmhohen Gebäude, blieb sie stehen. Sie stieß die milchgläsernen Türen des Hauses auf und sah in einen schmalen Raum. Der Boden war aus schwarzem Stein und glänzte nass, so als sei er gerade eben gewischt worden. Man konnte darauf leicht ausrutschen. Die Luft war warm und süß durch das Reinigungsmittel. Man konnte sie anfassen, so schwer war sie. An der Decke hing ein großer Ventilator, der aber stand. Rechts war ein kleiner Glaskasten, wohl für eine Person gemacht, die Auskunft gab, doch war er an diesem, wie an jedem anderen Nachmittag auch, unbesetzt. Sie ging zu dem Kasten und klopfte an die Scheibe, vielleicht konnte sie jemand hören. Drinnen sah sie eine halbleere Kaffeetasse stehen, an deren Rand noch ein Rest Rot des Lippenstiftes der Trinkerin war. Es qualmte außerdem eine Zigarette in einem braunen Aschenbecher aus Glas. Das Mädchen wartete einige Minuten unschlüssig. Sie fand den Umstand ärgerlich, immerhin kam sie hier nach langer Reise an und wollte sich vorstellen, aber niemand war da. Sie beschloss dann, einfach ohne guten Tag gesagt zu haben und ganz auf eigene Faust den Aufzug nach oben zu nehmen. Die Schlüssel hatte man ihr schon im Vorfeld übermitteln lassen. Vor ihr lagen fünf Aufzüge. Sie betätigte den dafür vorgesehenen Knopf und wartete. Die Aufzüge waren aus Metall, in das ein Muster eingestanzt war, das sie verschwommen zurück warf. „Man wird ja gleich ganz anders durch so eine falsche Spiegelung“, dachte sie und freute sich auf die Dusche, die sie später nehmen wollte. Links von den Aufzügen fand sie eine Aufstellung der vorhandenen Wohneinheiten, reißbrettartig, Namensschilder unter viereckigen Kunsstoffklappen den Stockwerken zugeordnet. Es waren Hunderte und mehr und sie waren wohl zur Orientierung gedacht, doch dafür blieb keine Zeit, ein Aufzug kam scheppernd an und befördert sie nach oben.
Es erstreckte sich dort vor ihr ein langer Flur, an dessen Ende durch ein Fenster etwas Licht einfiel. Bis dahin ging es geradeaus und an den Seiten lagen regelmäßig Eingänge, links wie rechts zwölf Türen. Alles war im Dunkeln und es deutete nichts auf irgendeine Bewohntheit hin, es ging ja nicht mal das Licht, dessen Schalter das Mädchen mit dem Ellenbogen betätigte, weil sie in den Händen die Koffer trug. Es war ganz still und dunkel.
Wenn sie schon in diesem Moment gewusst hätte, wie oft sie diesen langen dunklen Flur noch alleine würde entlang gehen müssen, alleine mit sich, sich Fuß auf dem Fuße folgend, über den glatten und auch immer dunklen Boden, auf das Fenster zulaufend, bis zu der vorletzten Tür am linken Ende des Ganges, hinter der immer die Leere wartete — ja, wenn sie gewusst hätte, dass sie in diesem Haus in die Leere einzog, sie wäre sofort umgedreht und dann wäre sie wohl auch niemals verschwunden. Heute sind die menschenleeren Flure ihr Zuhause und sie ist darüber nicht einmal unglücklich. Es ist ihr eher ganz gleich.
An jenem ersten Tag aber schloss sie die Tür zu der Wohnung auf, die in einem der Türme untergebracht war, die in dem turmhohen Haus lagen. Es gab Abnutzungsspuren am Schloss. So auch auf dem grauen Teppich und an der Wand und so war auch der Geruch. Das Mädchen ging einmal durch die Räume. In dem fensterlosen Badezimmer lag noch ein zurück gelassenes Handtuch mit einer verwaschenen Blumenstickerei darauf und im Waschbecken waren Rostflecken, die ihre Mutter sofort beseitigt hätte. Das Mädchen lächelte in den Spiegel, als sie das dachte. Es gab in der Wohnung ein Bett, einen Nachttisch, einen Sessel mit einem Fleck auf dem Sitzpolster, ferner ein Bücherregal und zwei Einbauschränke. Sie sah alle Fächer durch und fand ein Buch. Ein Reiseführer über die Stadt aus vergangenen Zeiten, sehr benutzt. Sie blätterte ihn einmal durch. Die Seiten lösten sich aus der Bindung und flogen auf den Fußboden. Das Mädchen sah sich um, sammelte sie schnell zusammen und verstaute das Papierbündel in einer Schublade. Damit es nicht so still war, stellte sie den Fernseher an. Es lief ein alter Film mit Frauen und Männern in ernsten Situationen. Jetzt hätte sie einen Grund sich einsam zu fühlen, dachte sie, als sie das Bett bezog und den Menschen im Fernseher zuhörte, aber es war gar nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Vor den Fenstern senkte sich die Sonne in das grauglänzende Gesicht der Stadt. Sie stellte sich davor und lächelte herunter und sie war sich in diesem Moment auch absolut sicher, dass alles richtig war. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass neben dem Bett ein Telefon stand, aber das hat nur indirekt etwas mit ihrem Verschwinden zu tun.
Am Tag hatte das Mädchen Aufgaben zu erfüllen, die sie erledigte. Selbstverständlich hatte sie dafür gesorgt, dass sie nicht ohne war. Sie hatte Gründe jeden Morgen das Haus zu verlassen und zwar an Wochentagen um 08:30 Uhr. Sie nahm die U-Bahn, ja, die U-Bahnen, sie saugen Menschen in sich herein und spucken sie wieder aus und sie bringen sie zu Plätzen und das Mädchen musste zu einem Platz, über dem ein anderes hohes Haus stand, das ihrem glich, aber nicht ganz so hoch war und sie betrat es pünktlich um 08:55 Uhr, die Umhereilenden und das Aufschlagen der Absätze im Ohr, man versammelte sich in Aufzügen und wünschte sich vielfach täglich einen guten Tag, wenn einer den Aufzug verließ und auch auf den Fluren tat man es weiter und immer wieder, man grüßte sich unbekannterweise und auch das Mädchen ging über ein Stockwerk und grüßte, sie ging über den Flur, der zu ihrem Arbeitsplatz führte und dort saß sie regulär bis 18:00 an ihrem Schreibtisch als Sachbearbeiterin für Kundenreklamationen von Computern und Zubehör, aber oft dauerte es länger, es gab viel zu tun, von fern telefonierten täglich tausende Kunden ihre Beschwerden in das Bürohaus herein, die das Mädchen entgegennahm, protokollierte und an die zuständige Abteilung weiterleitete, bis zu 500 Mal am Tag und am Ende musste noch ein Report verfasst werden, der an die Stelle für Prozessoptimierung zu übersenden war. An einem langen Tisch, der durch Trennwände unterteilt war, waren neben ihr weitere Sachbearbeiter für Kundenreklamationen von Computern und Zubehör aufgereiht, auch sie nahmen unzählige Gespräche entgegen und es war kaum Gelegenheit, um sich einander bekannt zu machen, aber wenn einer in einer Pause hörte, dass der benachbarte Sachbearbeiter gerade nicht sprach, also möglicherweise auch in einer kleinen Pause war, dann beugte man sich an der Trennwand vorbei und wechselte flüsternd ein paar Worte über die noch verbleibende Zeit bis zum Feierabend, über die Überstunden, die wieder einmal geleistet werden mussten oder man dachte gemeinsam an die nächsten Ferien bzw. an drohende Entlassungen und es gab dann betretende Blicke und es wurde bisweilen auch mit den Augen gerollt, doch versicherte man sich am Ende eines solchen Gespräches immer, dass man froh und dankbar für diese anständig bezahlte Arbeitsstelle war und dann klingelte auch schon wieder ein Telefon und es musste weiter gearbeitet werden. Im Büro war es kalt. Eine Jacke war nötig wegen der Klimaanlage, über die sich allseits beschwert wurde und da saß das Mädchen frierend hinter Glas und wenn es spät wurde und es wurde häufig spät, verfolgte sie, wie sich die Sonne als glühender Ball in dem von Lichtern zitternden Gesicht der Stadt versenkte, die schwer atmete und wenn die Arbeit erledigt war, machte sie sich auf den Weg, sie ging im Dunkeln nach Hause, dafür dankbar und außerdem dankbar für ihre Arbeitstelle, der sie es wieder geschafft hatte, gerecht zu werden. Ja, sie war in diesen Momenten froh, dass sie überhaupt diese Fremde zu schaffen schien.
Die Fremde sah auch gar nicht so anders aus, als das, was sie von zu Hause kannte, fand das Mädchen. Es war alles größer, aber auch hier gab es Büros, in denen man die Tage zubrachte. Kaffeemaschinen, Kaffeekassen, die Frage, wer den Kaffee kocht, Austausch über die Qualität des gekochten Kaffees, Leuchtröhren an der Decke, lange Flure, Formulare, im Bildschirm die gleiche Aussicht, wie auch zu Hause, ja, es gab sogar einen Automaten, der das gleiche Sortiment anbot wie in ihrem vormaligen Büro und so war es ihr möglich, täglich den gleichen Riegel zu essen, ganz wie zu Hause. Ein Mann mit einem schnapsroten Gesicht, der in dem gleichen Großraumbüro saß wie sie, grüßte sie seit ein paar Wochen recht freundlich und dadurch hatte sie immerhin schon ein erstes ihr zugewandtes Gesicht. Die Sekretärinnen schmissen sich Bälle in Form von freundlichen Worten zu und einmal wurde das Mädchen auch zu einem Kinobesuch eingeladen.
Abends kehrte sie zurück in ihre Wohnung. Sie lief über den dunklen Flur, der am Tag gewischt worden sein musste, denn es roch wieder so. Anfangs hoffte sie noch, dass sich eine der 24 Türen, die vor ihrer lagen und an denen sie vorbei ging, einmal öffnen würde, sie hoffte, dass sich ihr eine kleine Gelegenheit für eine menschliche Bekanntschaft bieten würde, aber der Flur blieb leer und dunkel und still und dann schloss sie ihre Tür auf und schaltete gleich den Fernseher ein, damit es nicht weiter so still blieb und vielleicht, wenn sie nicht zu müde war, kochte sie sich auch noch ein Gericht, das sie auf dem Sessel mit dem Fleck auf dem Polster aß und wenn sie damit fertig war, stellte sie sich an das Fenster und sah in das Gesicht der Stadt, das von den Lichtern glänzte und das ihr bisher verschlossen geblieben war, was etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat.
An einem Tag war es besonders heiß gewesen. Sie hatte noch vor Sonnenuntergang das Büro verlassen können und war durch die flimmernde Stadt nach Hause gelaufen. Sie stand dann einige Zeit in ihrer Wohnung hinter Glas und sah nach unten und sie fühlte ein innerliches Zittern, das zwischen diesen Wänden allein unmöglich ausgestanden werden konnte. "Am Ende fange ich noch an hier oben mit mir selbst zu reden", sagte sie sich, lachte kopfschüttelnd und verließ dann kurzerhand die Wohnung, um ein wenig spazieren zu gehen und um vielleicht einen anderen Menschen zu treffen. Unten lief sie über den vom Tag warmen Asphalt. Die Abendsonne fiel auf die spitzen der Häuser und spiegelte sich in ihrem Glas. Zwischen den Wänden stand noch die Hitze und die wenigen Menschen, die dazwischen waren, waren mit sich oder mit einem Anderen, an dem sie sich festhielten und sie bildeten somit eine Abgeschlossenheit, an der das Mädchen vorbei gehen musste, durch die Straßen, die also leer waren und sie wollte angesichts dieser Aussichtslosigkeit schon wieder umkehren und bereitete sich auf das Aufschließen der ebenfalls leeren Wohnung vor, in der sich in der Zwischenzeit nichts verändert haben, die wieder still vor ihr liegen würde, doch da stolperte sie plötzlich, aus dem Nichts heraus und sah aus dem Augenwinkel einen Spalt leuchten, in einem tunnelartigen Hauseingang, der sonst ganz im Dunkeln lag. Dort war eine Stahltür, aus der schwaches Licht strahlte und Stimmen auch. Das Mädchen folgte ihnen, hinter der Tür ging eine Steintreppe steil nach unten, die sie herabstieg. Es war feucht und warm und die Stimmen wurden mehr. Sie schwollen ihr entgegen, aber die Stufen hörten nicht auf. Es ging immer noch ein weiteres Mal um die Ecke, wenn sie geglaubt hatte gleich angekommen zu sein. Um viele Ecken ging sie, fast gewöhnte sie sich daran und vergaß das Gehen, bis sie am Anfang eines Kellers stand, der bis unter die Decke mit Menschen gefüllt war. Sie erschreckte vor dem Anblick, der in seiner Gesamtheit den Eindruck eines dicken Körpers machte, der sich an jeder Stelle bewegte. Nur in der Mitte war ein freier Platz, in dem irgendeine Aufführung gemacht wurde, die die anderen Menschen verfolgten. Es wurde geredet und getanzt. Es waren so viele. Sie tranken und gleich gab ihr eine Hand ein Glas, gefüllt mir scharfem Schnaps, der ihr entgegen schwappte und über die Finger lief. Als sie sich bedanken wollte, war die Hand und der Mensch, dem sie angehörte schon verschwunden. Das Mädchen trank, Hitze stieg in ihr auf, um sie herum war es auch heiß, die Körper waren nass und die Menge jubelte und schrie, wohl, weil bei der Aufführung in der Mitte gerade etwas Spektakuläres geschah, was das Mädchen aber nicht sehen konnte. Hier waren also die Menschen, die sie suchte und sie waren ein wichtiger Grund für ihr Verschwinden und sind es immer noch.
Das Mädchen trank diese erste Nacht ganz aus und sie trank auch jede der darauffolgenden Nächte bis auf den letzten Schluck. Es gab so viel zu sehen, denn es war ja nicht so, wie sie zuerst ganz selbstverständlich angenommen hatte. Es war nicht so, dass dies das einzige Gewölbe war, das es unter der Stadt gab. Ein weißgeschminkter Clown, vor dem sie schwankend irgendwann stand, zeigte ihr, wie es wirklich war. Er riss sie in die Höhe und begrüßte sie mit einem Kuss auf den Mund. Sie hatte die Augen noch geschlossen, da sah er auch schon unter ihrem Hemd nach, er packte sie bei der Hand und stürzte nach vorne, durch die Köpfe, die unzähligen Köpfe, die lachend, mit aufgerissenen Mündern der Vorstellung in der Mitte entgegenfieberten und die an dem Gesicht des Mädchens vorbeizogen und dann schließlich drehte sie sich am Ende des dampfenden Kellers, von dessen Decke der Dunst tropfte und unaufhörlich weiter nach oben stieg, da drehte sie sich nun und hatte die Hand des Clowns verloren, nach dem sie Ausschau hielt und den sie dringend wiederfinden wollte, immerhin hatten sie einander geküsst, doch sie sah ihn in der ganzen großen Menge nicht. Er war weg und das ist wichtig für ihr Verschwinden.
Sie suchte den Clown und fand einen kleinen Gang, der in einen anderen Raum führte, der noch größer war, als der vorherige. Auf einer Bühne spielte über den Köpfen der Menschen ein Sänger, um den herum sich die Anwesenden drängelten und klatschten und riefen. Das Mädchen konnte dem Sänger von ihrem Platz aus in das kleine Gesicht sehen, das sich, ganz dünn und blass, wie unter starker Anstrengung, müde bewegte, angefeuert von dem überlaufenden Applaus, den der Sänger durch sein Spiel immer weiter hervorrief und der sich zu Jubelschreien anspitzte, als dort oben auf der Bühne Käfige herbei gebracht wurden, aus denen hunderte von weißen Vögeln strömten und mit den Flügeln schlugen und deswegen klatschten die Gäste noch schneller und hoben den Vögeln ihre Hände entgegen. Auf einer Leinwand an der Decke lief ein Heimatfilm aus alten Zeiten und die Anwesenden waren auch in einer solchen Tracht gekleidet, wie das Mädchen jetzt bemerkte. Sie bewegten sich wie die Schauspieler im Film und waren darüber belustigt. Sie tranken und es sah so aus, als freuten sie sich wirklich. Sie riefen sich unentwegt Urteile über die Qualität der Vorstellung und der Musik zu, die aus allen Seiten auf sie herabdonnerte. Ein vor Freude taumelnder Mann mit einer schwarzen Binde über den Augen, die zwei Schlitze zum Sehen hatte, kam zu dem Mädchen und nahm sie in seine großen, starken Arme. Er zog sie zur Seite in einen kleinen höhlenartigen Raum, Schattenandeutungen von Menschen waren darin zu sehen und der Mann, dessen Hand das Mädchen hielt, presste sich an sie heran und als er ihren Hals fast ganz in den Mund nahm, wunderte sie sich und befürchtete sogar, er wolle sie essen und sie spürte ein ständiges Tasten um sich herum, auch an sich, der ganze Raum atmete, und der Mann an ihr stimmte ein. Sie tastete sich über seine nackte Haut und fühlte an seiner Brust, auf dem Bauch und auch an den Armen kleine Schwellungen, viele harte Striche über dem ganzen Körper. Als sie fertig waren, verließen sie die Höhle und das Mädchen nahm ihn diesmal ganz fest bei der Hand. Sie wollte wissen, wie sein Name war, doch sie verstand ihn nur schlecht und fragte weiter ihm nachstolpernd, wer er sei und woher die Narben auf seinem Körper kämen. Sie standen in einer Ecke des Kellers. Der Mann mit der Binde um seine Augen schlang seine großen Arme um sie herum und blickte über ihren Kopf hinweg. Er hielt kurz inne und erzählte ihr dann seine ganze furchtbare, traurige und schreckliche Geschichte.
Er musste schreien, denn um sie herum brauste ohne Unterlass die Vorstellung im Halbdunkeln des Kellers. Er schrie es aus sich heraus und das Mädchen beugte sich zu seinem Mund, damit ihr seine Worte nicht verloren gingen. Sie streichelte ihm das Gesicht, sie suchte seine Augen, die ihm immer wieder zufielen und sie fragte, was er am Tag tue, ja, ob sie sich nicht vielleicht gemeinsam einen grünen Park suchen wollten, sie würde ihm auch gerne ein Essen machen, sagte sie und küsste seine Hände und lächelte ihn an. Er war nun jemand, den sie kannte und der sie kannte. Sie wollte von ihm wieder in seine Arme genommen werden und er erklärte dann, dass er wochentags bei einer Bank beschäftigt sei, wo er täglich mit großen Zahlen umzugehen habe. Die Bank befinde sich in der Nähe von einer bestimmten Station in einer bekannten Straße und er neigte den Kopf zur Seite und machte dazu auch noch weitere Angaben, die das Mädchen durch sein Wegdrehen aber unmöglich verstehen konnte. Sie begann ihm auch über sich Dinge zuzurufen und sie war sehr erstaunt und betroffen, als er mit einem Mal verschwunden war. Er war einfach weg. Sie hielt seine plötzliche Abwesenheit für ein Missverständnis und wartete. Es waren so viele in den Kellern versammelt, offenbar verlor man sich eben schnell wieder. Daher sollte man wohl besser nichts erwarten, dachte sie und wartete die ganze Nacht lang. Er kam nicht wieder und obwohl sie ahnte, dass er ihr verloren gegangen war, suchte sie ihn. Wenn sie tagsüber an ihrem Büroschreibtisch saß, dachte sie an ihn, in ihrer Wohnung saß sie vor ihrem Telefon, das nicht klingelte und hoffte, dass er es aus irgendeinem Grund schaffen würde, ihre Nummer ausfindig zu machen, aber er rief niemals an und es blieb ihr einzig die Hoffnung, ihn durch einen glücklichen Zufall in den Kellern in der Nacht zu treffen. Es waren Wochen und Monate, die sie dort mit der Suche nach ihm zubrachte, immer von einem Raum zum Nächsten. Sie kletterte durch die Kellerräume, sie sprang und flog durch die Luft, so leicht ließ sie sich jetzt nicht mehr fassen und wenn sie durch Zufall auf einer anderen Person landete, an der sie einige Stunden verbrachte, riss sie sich rechtzeitig los und verschwand wieder in der Menge. Auf der Suche nahm sie vieles mit. Sie sah viele Menschen und immer neue Orte. Sie bewegte sich vorsichtig dazwischen, sie streifte umher und sie lernte.
Bis heute kann sie nicht mit Sicherheit sagen, ob sie alle Vorstellungen kennt, denn es gibt unzählige, tausende und sie kommen und verschwinden wieder, ja, wo gerade noch eine Tür war, ist morgen nur noch ein Brett. Telefonnummern, Namen, Gesichter und Geschichten wechseln und vermischen sich unaufhörlich in den Kellern. In diesen Nächten jedenfalls sah sie, dass die Menschen unter der Erde waren und sie sah, was sie dort machten und warum sie hier waren. Niemand führte über den Hergang dort unten eine Aufsicht. Die Nacht war bei sich selbst angekommen, ebenso wie das Leben über den Kellern und die ganze darin liegende Ordnung. Man ging aus allen Häusern heraus zu anderen Häusern durch die Stadt, Tag für Tag seiner Arbeit nach. Es lief alles. Man lief, man musste sich unterhalten und davon auch die Miete bezahlen und es gab Erfordernisse, die etwas von dem Leben der Bewohner verlangten. Es war auch wenig Zeit. Es war üblich, dass sich die Bewohner lediglich zur Paarung zusammenfanden und sich dann wieder trennten. Das wurde von Wissenschaftlern bestätigt und die Architekten trugen dieser Entwicklung längst Rechnung, indem sie Häuser bauten, die ausschließlich Wohnungen für Einzelpersonen enthielten und es war auch das größte Haus in der ganzen Stadt, jenes turmhohe Haus, in dem das Mädchen wohnte, eine solche Einpersonenhaushaltsanlage. Das Mädchen sah all das und sie sah, wie es ging und wie es war. Ja, sie lernte und das ist der Grund für ihr Verschwinden. Sie ging neben den Anderen durch den Tag zur Arbeit. Ihre Wege spielten in Straßenschächten, in welchen die Menschen ihren Köpfen nachrannten. Auf dem Flur war nie jemand. Niemand putzte täglich den Fußboden, der immer auf die gleiche Weise nach dem süßen Reinigungsmittel roch, nie sah sie jemand, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschte. In der Wohnung lief der Fernseher, das Mädchen zog sich, nachdem sie von der Arbeit kam, ein schwarzes Kleid an und machte sich für den Keller zurecht. Sie suchte den Mann mit der Augenbinde und sie tat es so lange, bis sie ihn eben wieder vergaß. Irgendwann, Jahre später, streifte sie ihn noch einmal im Gedränge, aber das ging schnell vorbei, wie alles dort unten vorbei ging und niemals von Dauer war. Man ließ die Dinge hinter sich und prostete sich zu. Auf die Nacht, den Moment, das Zusammentreffen unter der Erde in den Kellern, darauf, dass man es dort schaffte, das, was am Tag passieren musste zu vergessen. Es war das ein wichtiges Gesetz und ein wichtiger Grund für ihr Verschwinden. Auch das Leben unter der Erde folgte Regeln. Es gab dort Ränge und Ordnungen.
In einer Nacht kam sie in einen Raum mit hohen Decken, Metall und Stein. An der Steinwand lief eine Leuchtschrift, die die neusten Geschehnisse anzeigte und auf dem Boden stand altes Industriegerät, das aus vergangenen Zeiten stammte. Darauf turnten kleine Affen in schwarzen Anzügen und Menschen auch und auf einer erhöhten Ansammlung von sperrigem Gerät thronte ein großer Sitz, ein Sitz, der für jeden in diesem Keller Anwesenden aus jeder Ecke sichtbar war und diesen erhöhten Sitz versuchten die Affen und Menschen kreischend zu erreichen. Sie kletterten das Gerät hoch, sie schrieen und lachten, manchmal fiel einer runter und schlug auf den Boden auf, aber das kümmerte keinen. Das Mädchen war irgendwo dazwischen. Ein Affe stieg ihr über den Kopf, weil er fortkommen wollte. Die ganze Menge schob und drückte sich in die Richtung des Throns. Jemand hielt sich an ihr fest, damit er im Gedränge nicht unter ging. Eine kleine Äffin riss ihr den Schal, den sie um den Hals trug herunter und rannte davon. An ihren Füßen hing eine viel zu schwache Frau in buntem Kostüm, die ihre Finger in die Haut des Mädchens krallte und unentwegt von unten hoch rief, sie solle ihr aufhelfen. Sie alle drückten und strebten hoch auf den Thron. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Nicht nach vorne, nicht zurück und auch die Seiten waren versperrt von Menschen und Affen, die etwas wollten. Ein Mann, der im Gedränge neben ihr stand, griff nach ihrem Gesicht. Er nahm es in seine Hände und saugte an ihrem Mund. Das Mädchen hatte keinen Ausweg und es war das der Moment, indem sie verschwand. Sie hatte keine Wahl. Es blieb ihr in dieser geschwollenen Ansammlung der sich abstoßenden und heranziehenden Menschen, die lose aneinander klebten, die ihren Schweiß vermischten, sich aneinander klammerten, die sich küssten und kratzen, die sich packten und wieder auseinander schlugen und die lachend miteinander ihre Angst aushielten, es blieb ihr zwischen diesen Bewohnern der Stadt nichts anderes übrig, als zu werden, was sie bis heute ist, nämlich eine schwarze Katze. Es geschah in dem Moment, als der Mann sie in seinen Händen hielt und an ihr saugte. Plötzlich sprang sie über die Köpfe und tänzelte auf ihnen durch den Keller, was sie bis heute tut. Es geht ganz leicht.
Den Menschen in den Kellern entgeht keine Sensation. Das Mädchen wurde schnell entdeckt, denn sie wusste sich auch als Katze verständlich zu machen und vor allem verstand sie, was die Menschen brauchten.
Wenn ihr heute danach ist, wärmt sie sich in irgendeinem Schoß der Kellerbesucher und lässt sich streicheln. Dann geht sie wieder und deswegen will jeder sie in den Armen halten. An manchen Tagen der Woche ist sie nun Teil einer Veranstaltung, die ausschließlich ihr und ihrem neuen Dasein als Katze gewidmet ist. Dort sitzt sie in einem erhöhten Korb, der mit rotem Samt ausgeschlagen ist und schnurrt von der Bühne über ein Mikrophon in die Menge herunter. Reporter kommen, um über sie zu berichten. Zu bestimmten Anlässen fängt sie eine Maus, was das Publikum besonders freut. Sie jagt sie über den gesamten Steinboden des Kellers zwischen den Beinen der Menschen hindurch bis in seine letzten Ecken, wo sie sie, angeleuchtet von großen Scheinwerfern, vor einer Wand stellt und dann mit einem Biss verspeist. Dann jubelt das Publikum. Nach Ende der Vorstellung macht sie sich auf den Heimweg. Die Straßenschächte weiß sie jetzt besser zu nehmen. Im Dunkeln streift sie mühelos hindurch. Sie muss nicht mehr der Vorgabe der gemachten Wege folgen. Sie kann queer gehen, klettern, springen und sie hat nicht mehr ihren schweren Körper zur Last, diese Last, die immer die Sehnsucht und den Wunsch, nicht mehr alleine zwischen die steinernen Wände gestellt zu sein, wachruft. Es ist nicht so, dass sie diese Sehnsucht nicht mehr spürt, das sehr wohl. Aber es ist für sie als Katze unendlich leichter damit zu leben — überhaupt in der Stadt zu leben, in jenem turmhohen Haus, dem größten aller Häuser, in das sie auch als Katze immer wieder zurückkehrt. Ihre Wohnung hat sie seither nicht mehr betreten. Sie ist jetzt auf den Fluren zu Hause und es geht ihr damit gut. Es geht. Sie weiß, dass die Menschen hinter den Türen alleine sind und wenn sie Gesellschaft möchte, kratzt sie an einem der unzähligen Eingänge und bekommt Einlass und eine Schale Milch. Die Menschen freuen sich. Als Katze kann sie zu ihnen gehen, sich streicheln lassen, Hände wärmen und sie fürchten sich davor nicht, wie auch sie sich nicht fürchten muss. Nach einer Zeit verlässt sie die Menschen wieder. Sie muss in die Keller um ihrer Arbeit nachzugehen und um da zu sein. Wenn sie traurig ist, kann sie springen. Manchmal verschwindet sie Tage unter der Erde und niemand findet sie, denn niemand in der Stadt wusste überhaupt, dass sie da war, bevor sie verschwand und es war das Verschwinden deswegen ihr einziger Ausweg.
Für J. im Sommer 2009